Ute Ackermann/Heidi Stecker
Bild, Reiz und Rätsel. "Die Reitzensteins" von Heike Lydia Grüß

Die Berliner Künstlerin Heike Lydia Grüß arbeitet seit 2000 an einer Serie von Zeichnungen mit dem Titel "Die Reitzensteins". Den Blättern liegt die Auseinandersetzung mit dem Buch "Das Weib bei den Naturvölkern. Eine Kulturgeschichte der primitiven Frau" von Ferdinand Freiherr von Reitzenstein (1931) zu Grunde.

Dieses Buch konfrontiert die Leser mit einer Vielzahl ethnologischer bzw. anthropologischer Darstellungen nackter oder nur teilweise bekleideter Frauen. Die Photographien und Stiche in von Reitzensteins Buch irritieren. Wulstig geformte Frisuren, tätowierte Körper und extravaganter Körperschmuck lassen die Frauen bizarr und rätselhaft erscheinen. Sie gehen in unterschiedlichsten Landschaften merkwürdigen Beschäftigungen nach, posieren oder pflegen der Muße. Es sind Bilder, die das Fremde vermeintlich wahrhaftig vorführen und dabei eher europäische Vorstellungen von Fremde illustrieren, Bilder, die aus sehr differenten Intentionen entstanden und die mit ungebrochener Kraft die Blicke auf sich ziehen. Dieser Anziehung spürt Heike Lydia Grüß mit ihren Arbeiten nach. Das Abgebildete, aber auch das Unsichtbare und der Blick auf das Fremde sind von Interesse. Die fremdartige und erotische Ausstrahlung der Aufnahmen kann auch durch die wissenschaftliche Legitimation ihrer Entstehung nicht überdeckt werden. Nackte Haut bleibt auch für den Wissenschaftler neben dem Forschungsobjekt Objekt seiner Begierde, zumal die Ethnologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fast ausschließlich Männer waren. Mögen von Reitzensteins Absichten aufklärerisch und in diesem Sinne wissenschaftlich gewesen sein, so ist das von ihm verwendete Bildmaterial nicht vollständig dazu geeignet, dem Voyeur die Schlüssellochperspektive zu versperren.

Aus heutiger Sicht ist es schwierig, das Forschungsinteresse der frühen Ethnologen und Anthropologen nicht im Zusammenhang mit Rassentheorie und Eugenik zu betrachten. Allzu schnell gerät die frühe Völkerkunde in den Verdacht, ausschließlich der Vorbereitung faschistoider Rassenideologien gedient zu haben und extrem frauenfeindlich gewesen zu sein. Auch wenn diese Tendenzen nicht zu leugnen sind und ein hoch gefährliches Potential darstellen, wäre es doch eine nicht zu verantwortende Verkürzung, diese wissenschaftlichen Disziplinen ausnahmslos auf jene Konzepte einzuschränken. Weder solche Klischees zu illustrieren noch das lediglich gemäßigt emanzipatorische Konzept des Autors zu geißeln, intendiert die Künstlerin bei ihrer Arbeit. Es geht um das Bild, seinen Reiz und sein Rätsel. Anliegen der Autorinnen ist es, die Arbeiten von Heike Lydia Grüß zu flankieren und den diffusen wissenschafts- und bildhistorischen Hintergrund zu erhellen.

Die Emanzipation der Wissenschaftszweige Anthropologie und Ethnologie zu eigenständigen Disziplinen ist ohne die Entwicklung der Photographie kaum denkbar. Spätestens seit der Zeit Alexander von Humboldts betrachteten Forschungsreisende das vorhandene ethnographische Bildmaterial in Form von Zeichnungen und Stichen als durch europäische Vorstellungen geprägtes Imaginarium. Reisemaler, Autoren und Stecher verwoben Gesehenes und Erlebtes seit der Antike in ihren Darstellungen zur Illustration der jeweiligen Deutung der Anderen, in dem sie entweder deren "Wildheit" betonten oder einen idealen Ur- bzw. Naturzustand konstruierten. Entsprechend tummelten sich einerseits Monstren in den Fabelwelten der frühen Reiseberichte. Andererseits unterschieden sich bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts die Darstellungen von "Eingeborenen" von denen von Europäern in erster Linie durch Kleidung und Schmuck bzw. einen kräftigeren Wuchs, entsprachen aber wenig europäischen Schönheitsidealen. Besonders beliebt schien die Abbildung kannibalischer Riten und kastrierender Barbaren als Ausdruck von Rohheit und Unzivilisiertheit. Während der Aufklärung wandelte sich das Bild zum Ideal des "edlen Wilden" als Metapher der "reinen und ursprünglichen Menschlichkeit". Der Paradiessehnsucht entsprangen unverdorbene Wesen mit den Proportionen antiker Statuen.
Die Entstehung der physiognomischen und anatomischen Typenlehre in der Aufklärung erforderte vergleichbare Darstellungen. Zeichner und Kupferstecher waren ausdrücklich angehalten, beim Porträtieren von Eingeborenen auf möglichst unverfälschte naturgetreue Wiedergabe zu achten. Ästhetische Normen und daraus abgeleitete Werturteile wie eurozentristische Ideen konnten jedoch nicht per Dekret ausgeschaltet werden. Im Bewusstsein dieses Problems wurden am Ende des 18. Jahrhunderts detaillierte medizinische und ethnologische Kriterien zur Beschreibung des Gesehenen den Reisenden in die Hand gegeben. Die Wiedergabe eines objektiven Bildes fremder Völker blieb jedoch ein scheinbar unmögliches Unterfangen, dem erst der uneingeschränkte Wahrheitsanspruch der Photographie gerecht zu werden versprach. Mit ihr glaubte man über ein "verlässliches Mittel zur Faktensicherung zu verfügen, mit dessen Hilfe sich eine mimetische Reproduktion des Wirklichen ohne Dazwischenkunft einer schöpferischen Hand herstellen ließe. [...] das solchermaßen gewonnene Bild [wurde] als Registratur und Spiegel der Welt aufgefasst. " (Kabatek 2004, S.146.) Um vergleichbare Aufnahmen zu erhalten, machte Gustav Fritsch 1872 Vorschläge zur Normierung von Beleuchtung, Pose, Brennweite und Bildhintergrund bei photographischen Aufnahmen. Es entstanden seit 1885 Anleitungen zur wissenschaftlichen Beobachtung in Form von Handbüchern und Fragebögen, die den Reisenden mitgegeben wurden. Am augenfälligsten wurden diese Kriterien bei anthropometrischen Aufnahmen vor einem Raster umgesetzt.
In den seltensten Fällen fertigten Ethnologen oder Anthropologen selbst die Aufnahmen an. Seit der Erfindung des Rollfilms 1891 war praktisch jeder in der Lage zu photographieren. Die Mitnahme einer Kamera wurde ausdrücklich in Reisehandbüchern empfohlen. Die Photographiebessenheit der Reisenden bediente die Sammelwut der Anthropologen und Ethnologen mit zahllosen Aufnahmen. Die Museen, Sammlungen und anthropologischen Gesellschaften wurden von Kolonialbeamten, Missionaren, Abenteurern, professionellen Studiophotographen und Laien mit Bildmaterial versorgt. Im Jahre 1914 verfügte allein die Sammlung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie über 17 000 Einzelaufnahmen und 2 300 photographische Platten. So entstand ein äußerst heterogener Fundus an Aufnahmen. Die Vergleichbarkeit des photographischen Materials blieb jedoch fraglich... (weiterlesen, PDF)